terrestrische notizen
Geishouse, Vogesen | Meereshöhe: 750m
Durchschnittlicher Niederschlag: 1256 mm/Jahr
Ausgangspunkt dieser Notizen ist eine topografische Verwerfung vor 50 Millionen Jahren. Durch einen Bruch tief in der Erdkruste entstand der heutige Oberrheingraben. Die tektonische Verschiebung schuf eine 40km breite Ebene, an deren Rändern sich zwei Mittelgebirge in die Höhe schoben.
27. Juli 2020
Vor zwei Jahren starb meine Mutter. Kurz vor ihrem Tod kaufte sie sich noch italienische Ledersandalen. Die Schuhe standen neben ihrem Bett im Hospiz. Sie hat sie nie getragen.
Ihr Tod setzt bei mir eine Entwicklung in Gang. Teil der Transgression ist der Wunsch nach Neuland. »Wo landen?« fragt Bruno Latour in seinem terrestrischen Manifest. Ich suche nach einem Ort, an dem ganz zufällig der Blitz einschlägt. Geerdet und konkret. Nach einem Stück Land, einem Refugium. Nach Möglichkeit mit Behausung, im Französischen le re-fuge. Fuge ganz im Sinne von Falte, am eindrücklichsten bei J.S. Bach.
Seit der jugendlichen Lektüre von Lenz lebt in mir die Sehnsucht nach den Vogesen als rauhes Gegenüber zum Schwarzwald: »Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen«.
Nach 30 Jahren Trennung von C.
Mit jeder Schneeschmelze schwemmt der Rhein Sedimentgestein aus den Alpen in die Tiefebene. Über Jahrmillionen mäandert der Fluß durch das breite Tal. Die Wassermassen schlängeln sich jährlich neu zwischen den beiden Gebirgen und bilden so den bedeutendsten Grundwasserleiter Mitteleuropas.
Der Ingenieur Tulla zwängt den Rhein ab 1817 in einen Kanal. Aus der relationalen Verschlungenheit wird effiziente Linearität. Dafür gab es gute Gründe – wie für alle hypertrophen Eingriffe der Moderne ins Naturgeschehen.
5. Dezember 2021
Thoreau, Corbusier und Jarman hat es aus unterschiedlichen Motivationen in kleine Hütten gezogen. »Live simple and build your hut«, empfiehlt Emerson. Und Baldwin notiert im Dezember 1956: »The place in which I´ll fit will not exist until I make it«. Die Dühnenhütte von Barbara Hammer zeigt in ihrem Film A MONTH OF SINGLE FRAMES, dass dies nicht reine Männerphantasien sind. Ganz im Gegensatz zu Martin Heideggers Behausung in Todtnauberg oder etwa Ted Kaczinskys Hütte in Lincoln, Montana.
Nach einigen Irrfahrten finde ich ein Hanggrundstück auf 800m Höhe im Südwestauslauf des Grand Ballon. Eine Steilwiese am Waldrand mit Blick über den Jura auf die Alpenkette. In der kleinen Straße am Fuße des Hangs liegt Wasser und Strom.
Die Vogesen sind geografisch von scharfen Klimawechseln geprägt. Die Gebirgskette ist das erste große Hindernis für feuchte Luftmassen vom Atlantik. Hohe Niederschläge führten in der Eiszeit zu starker Gletscherbildung.
Als diese schmolzen brachte die Sedimentation des Granitgesteins die charakteristische Morphologie der Landschaft hervor. Die Rundkuppen der Berge sind so durch fortlaufende Erosionen entstanden. Das halbkreisförmige Plateau am Südwestauslauf des Grand Ballon wurde von einem Kargletscher ausgeschürft. Dort liegt heute das Dorf Geishouse mit heute 500 Einwohnern.
12. Februar 2021
Ein milder Wintertag. Wie in Frankreich üblich findet der Kauf nicht im Notariat statt, der Notar kommt vielmehr aufs Gelände. Nach einigen Unterschriften bin ich Besitzer von Parzelle 160/7.
Gleichzeitig löst der Schritt ein Gefühl von Enge aus. Herbst 1973, irgendwo im Elsass: Super-8 Aufnahmen eines Sonntagsausflugs zeigen meinen Bruder und mich herausgeputzt, mein Vater filmt sein neues Auto. Im Hintergrund stolpert unsere Mutter haltlos durchs Bild.
Das Verb »haben« hat den gleichen lateinischen Ursprung wie das Wort »wohnen«. »Bowen« und »being«, Bauen und Sein hängen etymologisch ebenfalls zusammen. Gefangen auf einer von Gletschern geformten Landschaft.
Geishausen ist keine bloße Koordinate auf einer Kugel, wo sich Linien kreuzen, kein isotroper Raum. Vielmehr ein der Sonne und Witterung ausgesetztes Stück Land voller Einschreibungen und Geschichten, ein amorphes Areal voller Leben und Metabolismen. Mit mannigfaltigen Sichtbeziehungen, Rhythmen, Gerüchen und Spuren.
26. Februar 2021
Um das Stück Land besser verkaufen zu können, hatte der Vorbesitzer alles abgeholzt. Zum zwanzigsten Geburtstag von O. pflanzen wir einen Baum.
Für die Errichtung einer biologischen Kläranlage wird ein Bodengutachten erstellt. Eine Geologin nimmt Proben und mißt die Drainage des Granitgesteins in einem Meter Tiefe. Unter der Grasnarbe stößt sie auf Gesteinsbrocken in allen Größen, teilweise zu Sand erodiert.
Die Humusschicht ist vergleichsweise dünn. Die Bauern konnten meinen Hang aufgrund der Steilheit über Jahrhunderte nicht so gut bewirtschaften, wie die angrenzenden Parzellen.
Geishouse liegt auf der Leeseite der Vogesen. Es gibt deutlich weniger Niederschlag als auf der Seenplatte jenseits der Berge. Der Klimawandel verstärkt die extremen Wechsel von Trockenheit uns Starkregen.
15. März 2021
Der kleine Bergrücken mit den ehemaligen Bauerngärten wurde 1970 für den Bau von Wochenendhäusern frei gegeben. Meine Parzelle war umlaufend mit Fichten eingefasst. Wir lichten die Reihen, so dass sich der Raum wieder nach unten öffnet. Das Terrain bekommt keine Umzäunung, Rehe und andere Tiere aus dem Wald können weiterhin kreuzen. Die jungen Obstbäume müssen mit dem Wildfraß leben.
Für die Errichtung einer biologischen Kläranlage wird ein Bodengutachten erstellt. Eine Geologin nimmt Proben und missßt die Drainage des Granitgesteins in einem Meter Tiefe. Unter der Grasnarbe stößt sie auf Gesteinsbrocken in allen Größen, teilweise zu Sand erodiert.
Ich binde das gelbe Tischtuch aus der Stellabar in Kairo an einen Fichtenstamm. Die Fahne beginnt gleich im leichten Fallwind zu flattern.
Der Begriff der »Urbarmachung« wurde im 17. Jahrhundert übernommen aus niederdeutsch orbar, »ertragreiches Stück Land«, weiter zu mittelniederländisch orbare; gebildet zum mittelhochdeutschen Verb erbern, althochdeutsch urberen, »hervorbringen«, bestehend aus den Partikel er-, ur und beran, »tragen«, vergleiche »gebären«.
4. April 2021
Ich folge der ethnologischen Empfehlung von Lindquist und grabe da, wo ich stehe. Weil mein Gelände so steil ist, war es äußerst mühsam zu beackern. Im Gegensatz zu den Nachbargrundstücken ist der Boden daher nur mit einer sehr dünnen Humusschicht ausgestattet. Bei Pflanzarbeiten stoße ich auf eine Abfolge überwucherter Steine, die von den Bauern als Stufen in den Hang gelegt wurden. Die freigelegte Bewusstseinsschicht nenne ich Amitaipfad.
Im darauffolgenden Traum ist der gesamte Berghang mit einer gelben Neoprenhaut überzogen.
Um 600 v. Chr. siedeln hier die Kelten. Sie benennen die Gegend nach ihrem Berg- und Waldgott Vosegus.
21. April 2021
Ich reiche die Scheidung ein. Den heimischen Nadelhölzern sind die durchlässigen Böden in meinen Ehejahren zu trocken geworden. Auf Empfehlung von E. pflanze ich eine marokkanische Schwarzkiefer. Ein genügsames und zähes Gewächs. Sie stammt aus dem Atlasgebirge, mag kalte Nächte und braucht viel Sonne. Mit etwas Glück kann der Baum aus der alten französischen Kolonie hier für einige hundert Jahre Wurzeln schlagen. Ich wäre hier mit drei Dekaden zufrieden.
Die Fallwinde vom Grand Ballon sind tendenziell föhnig, weshalb man von Geishouse aus die Schneeberge sieht. Von Eiger, Mönch und Jungfrau bis hin zum Mont Blanc.
10. Mai 2021
Ich schaffe Werkzeuge, Pflanzen und Baumaterialen auf das Gelände. Die meisten Dinge wurden übers Internet bestellt und per DHL oder per Spedition geliefert. Bis hin zu den beiden Fertigsaunen aus Schweden.
Laut McLuhan wird durch jeden Transport das verändert, was transportiert wird. Das gilt nicht nur für elektronische Medien, sondern auch für lebhafte Materie. Im deutschen Wörterbuch steht ›Transponieren‹ zwischen ›Transplantat‹ und ›Transport‹: zwischen den Geweben oder Organen, die verpflanzt werden, und der Beförderung von Dingen und Lebewesen: von einem Raum des Wissens in einen anderen. Es geht dabei nicht nur um die Transponate selbst, sondern um die Bedingungen und Folgen des Transponierens.
Anders als der Schwarzwald besitzen die Vogesen zwischen der Burgundischen Pforte im Süden und dem Col de Saverne im Norden einen durchgehenden Hauptkamm. Er trennt die nach Ost und West laufenden Täler klar voneinander ab.
9. Juli 2021
Mit Beginn der Erdarbeiten liegt der Berghang wie eine offene Wunde da. Aufgerissene Gräben, Gestein und umgepflügte Grasnarben. Große Mengen an Kies werden aus dem Rheintal nach oben gefahren, aufgeschüttet und verdichtet. Eine tote Blindschleiche liegt auf dem Asphalt, eine Maus huscht über die sonnenverbrannte Erde auf der Suche nach Schutz. Kein Rotwild kreuzt den Hang.
Das System Erde versteht den Menschen als Teil der Natur, schreibt Humboldt. In diesem System ist alles in Bewegung: die Kontinente, die Pflanzen, die Tiere, die Menschen. Keine Bewegung bleibt folgenlos.
12. Juli 2021
Nach der Dürre des letzten Sommers gibt es in diesem Jahr viel Regen. Wolkenbrüche spülen die Erde nach unten und verleihen dem Gelände etwas Apokalyptisches.
Pest und andere Seuchen, Missernten und Hungersnöte prägen die Zeit um 1500. Die Bauern leben vom Ackerbau und von der Viezucht. Sie errichten Häuser und schützen diese mit Mauern aus den umherliegenden Granitsteinen.
17. Juli 2021
Der Meteoriteneinschlag von Ensisheim erschüttert 1492 das damalige Weltbild. In knapp 15km Entfernung errichte ich einen Krater mit ähnlichem Durchmesser. Eine Art von formbildender Verursachung, ein morphisches Feld für Libellen und Seerosen. Der Meteor hätte auch hier herunterkrachen können.
Die Lehmgrube füllt sich in kurzer Zeit mit Starkregen und wird zum Teich.
Von 1572 bis 1620 wütet die Hexenverfolgung. Im nahegelegenen Thann werden 140 Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. 1650 leben in Geishuss nach dem Dreißigjährigen Krieg nur noch 8 Bauern, 23 Kinder, 18 Horntiere und 3 Pferde.
30. Juli 2021
Terres Inconnue ist ein steiler Hang mit einer Neigung von 20°. Um ihn bewohnbar zu machen, errichten wir dort mit einem Bagger mehrere kleine Plateaus mit Fundamenten. Eine Stelle haben wir erst kurz vor Beginn der Erdarbeiten beim Picknick auf der Suche nach einem Schattenplatz gefunden. Auf 750m Höhe mit Blick auf den Grand Ballon.
Am Morgen wird die Schalung und die Bewehrung montiert. Neun Kubikmeter Beton der Konsistenzklasse 4 stehen unten im Tal im Stau, so dass der Zement bereits anzieht. Wasser vom Nachbarn bringt die graue Masse wieder in Bewegung, die dann zähflüssig durch die gewagte Röhrenkonstruktion fließt. Fünf Arbeiter sind 10 Stunden ohne Mittagspause im Einsatz und gießen an dem Tag die Fundamente für die Holzhütten.
Allen Bodenverdichtungen zum Trotz, werden die drei Betonplatten in den kommenden Jahrmillionen auf der Gletschermoräne ins Tal rutschen und zu Zementstaub zerfallen.
Um 1.000 n. Chr beginnt die moderne Besiedlung. 1135 ist in einer Urkunde von Goldbach der Geishusenweg vermerkt. Er gehört zur Abtei von Murbach und ist Teil der Pfarrei Saint-Amarin. Die Toponymie ist wie folgt überliefert: Geishusen (1135), Geisshusen (1394), Geishuss (1576), Geishausen (1793), Geishouse (1789).
28. August 2021
Introjekte sind Dämonen, gefallene Engel. Ich bekomme es mit der Angst zu tun. Das Projekt folgt nicht nur dem Wunsch nach einer eigenen Behausung bzw.eine Landschaft zu formen. Es wird immer mehr eine Konfrontation mit mir selbst, mit Anteilen, die ich als ein Fremdes und zugleich Vertrautes in mir trage.
Ich verbaue das Erbe meiner Mutter, unter deren Obhut ich mich lange Zeit geborgen, aber auch erdrückt gefühlt habe. Sie hatte sich nach meinem älteren Bruder ein Mädchen gewünscht. Ihr Tod hat etwas Befreiendes. Zugleich wird durch ihn meine Welt seelenloser und auch kälter.
Der Gipfel des Grand Ballon ist der kälteste Ort in den Vogesen mit den höchsten Windstärken. Er ist gerade einmal zehn Meter höher als sein Pendant auf der deutschen Seite des Rheingrabens. Die Berge liegen wie zwei kommunizierende Röhren auf gleicher geografischer Höhe.
5. September 2021
Am nächtlichen Himmel sieht man die Satellitenkette Starlink von Elon Musk, eingebettet in die Milchstraße. Wie viele Tränen und Schweißtropfen sind in den letzten Jahrhunderten auf diesen Boden gefallen?
Um dem digitalen Treibhaus zu entrinnen, wollen einige Superreiche das Raumschiff Erde verlassen und ihre DNA auf andere Planeten verpflanzen. Acht Milliarden Menschen bleiben auf der Erde zurück. Tatsächlich bin auch ich ein Teil dieser schizophrenen Wirklichkeit. Mit dem Elektroauto verbringe ich pro Fahrt eine Stunde auf Schnellstrassen. Eine unheimliche Geschwindigkeitsbox – der Strom ist nach französischem Sprachgebrauch „grün“ und stammt aus Atomkraftwerken.
An den Tagundnachtgleichen im März und September geht die Sonne vom Elsäßer Belchen aus direkt über dem Schwarzwälder Belchen auf. Die Namensgebung der Berge geht zurück auf den keltischen Licht- und Frühlingsgott Belenus. Den Druiden diente die Anordnung der Gipfel und die der Gestirne als Kalender.
21. September 2021
Wir erkunden das Belchen-System im Morgengrauen mit einem Reenactment von »Music for a Long Thin Wire« von Alvin Lucier. Es ist eiskalt auf dem Gipfel des Grand Ballon, mein kleiner Hund flüchtet sich in einen Rucksack. Um 7:12 Uhr brennt auf der Verstärker durch. Dann geht die Sonne auf.
Die Bergkuppe hatte bereits für die Steinzeitmenschen eine kosmische Dimension. Zweitausendjahre nach der keltischen Hochkultur steht hier eine Radarstation, die den Herrschaftsanspruch der Techno-Moderne symbolisiert. Die kybernetische Skulptur des Architekten Claude Vasconi – Radarstation des Flughafen Mulhouse – erinnert an die Filmkulisse des Science Fiction PHASE IV.
07. Oktober 2021
Die Linie meiner Väter besteht aus Männern, die ihre Körperspannungen seit Generationen martialisch ausagieren und ihre Kinder prügeln. Mein Großvater baut und sprengt Brücken an der russischen Front, errichtet Mauern in Judengettos. Der Onkel versiegelt den Kraichgau, Vater und Bruder das Murgtal.
In meiner Sozialisation bedeutet Bauen immer auch Krieg. Einmal angerollt muss die Sache laufen, Bagger und Panzer sind beides Kettenfahrzeuge. Die ausgehobenen Erdschächte für Wasser und Stromleitungen gleichen Schützengräben. Der Blick von meinem Gelände fällt direkt auf den Hartmannswiller Kopf. Hier starben im Ersten Weltkrieg 25.000 Menschen in einem Stellungskrieg um einen symbolischen strategischen Hügel.
Das reine Grauen. Teile dieses irrsinnigen Erbes stecken auch in meinem Körper.
Durch die Industrialisierung finden die Menschen ab 1680 Arbeit an den Webmaschinen, den Bergwerken sowie der ältesten chemische Fabrik Europas unten im Tal. Nach dem mühsamen Aufstieg am Abend füttern sie ihre Tiere und bewirtschaften ihre Bauerngärten.
15. November 2021
Michel Serres differenziert verschiedene topologische Ordnungen. So arbeiten und wirtschaften wir im euklidischen Raum, in dem wir etwa Land vermessen (die Parzelle 160/7 missßt 41 x 37 Meterm) oder massive Trittstufen verlegen (30 Steine à 60 kg, also 2 Tonnen mit einer Gesamthöhe von 4,50 mMetern).
Gleichzeitig berühren, leiden, lieben und hantieren wir in davon grundlegend unterschiedenen Ordnungen. Mein Bewusstsein verbindet diese Psychogeografien so gut es eben kann. Aber die globalen Parasiten durchkreuzen die lokalen. Mit unseren digitalen Geräten geistern wir in einer distanzlosen Topologie umher und die rousseauschen Terrains verschwinden in der Maßstabslosigkeit. Auch meiner Parzelle wohnt dieses Gespenstische inne.
Mit der Französischen Revolution beginnt auch in Geishouse die Bürokratisierung. Bei der Volkszählung am 15. September 1790 werden 103 Haushalte mit 552 Personen gezählt. Davon 93 Tagelöhner. Als Geishouse 1800 unabhängige Gemeinde wird, sind die umliegenden Wälder zum Betreiben der Maschinen gänzlich gerodet.
24. November 2021
Mein Architekturstudium liegt über dreißig Jahre zurück und von französischem Baurecht habe ich keine Ahnung. Entscheidungs- und Zeitdruck mit den Baufirmen, steigende Kosten, mangelnde Erfahrung – aber auch Leidenschaft am Gestalten, Spieltrieb, die Freude am Bauen und Pflanzen – führen schließlich zu einem Ergebnis, das radikal vom Bebauungsplan abweicht. Aus einem genehmigten Haus wird ein Teich mit vier Hütten. Auf ihren Dächern liegt der erste Schnee.
Nach dem Fall Napoleons fallen 1815 russische, bayerische und württembergische Truppen in das Tal ein. 1871 kommt Geishausen für ein halbes Jahrhundert unter deutsche Verwaltung.
16. Januar 2022
Ein Einschreiben verhängt den sofortigen Baustopp mit Vorladung in die Mairie.
Am 29. Oktober 1860 werden die drei Glocken der Kirche geweiht. Am 4. Februar 1944 läuten diese das Ende deutschen Besatzung ein. 1965 werden die alten Bauerngärten an der Südostflanke des Dorfes in Bauland umgewandelt.
2. Februar 2021
In der einstündigen Inquisition mit dem Bürgermeister, seinem Stellvertreter, dem Bauamtsleiter sowie Emanuel Macron (per Foto an der Wand) werde ich aufgefordert, die kleine Hütte am Waldrand unverzüglich zu entfernen. Ein Ressentiment gegen den Deutschen, der auf französischem Boden willkürlich betoniert, wird spürbar – vielleicht begründet in den Hinterlassenschaften der Wehrmacht an der Atlantikküste. Damaliger Sprachgebrauch für die Bunkeranlagen: schwerer Massenbau. Ich bin kleinlaut und beschämt.
Bei der anschliessenden Ortsbegehung Stimmungswechsel. Dem Amtsleiter scheint die Sache zu gefallen. Es gab wohl Beschwerden, denen sie nachgehen mussten. Schließlich kann die Hütte bleiben. Einzige Auflage: ich soll einen Baum als Sichtschutz davor setzen, damit man das Gebäude von unten nicht mehr sieht. Eine Geste, die mich menschlich beeindruckt, zumal der Baum schon da steht. Die Intervention ist jetzt von der Gemeinde abgesegnet.
Bis ins 18. Jahrhundert bedeutet Landschaft die schicksalhafte Verschränkung von Landstrich, Gemeinschaft und Natur. In der Moderne dient diese nur noch der Ausbeutung – und sei es im Modus der touristischen Erholung. Sie hat den Lebensraum der Erde in eine kritische Zone verwandelt.
31. Dezember 2021
Meine erste Nacht in der kleinen Holzhütte am Waldrand in einer milden Siylvesternacht. Punkt 0 Uhr ertönt von oben lautes Gegröle. Mein Paradies wird zur Kulisse, was mich rasend macht.
Die Topografie des Geländes repräsentiert mein Über-Ich. Während ich nach vorne in die Landschaft blicke, schwebt oben hinter mir ein dunkles Haus mit ausladender Terrasse. Die Anordnung ist seit „Psycho“ jedem Filmfreund bekannt. Sie gleicht einem Panoptikum, das mich in den Käfig der (Selbst-)Bbeobachtung zwängt. Egal wo man landet, das Problem sind die inneren Dämonen.
24. Oktober 2023
Die Hälfte der französischen Atomkraftwerke musste in diesem Hitzesommer aufgrund der niedrigen Flußstände vom Netz genommen werden. Dennoch haben die meisten Bäume Wurzeln geschlagen.
Von Bruno Latour habe ich den Begriff des Terrestrischen gelernt. Er war schon krank, als wir mit ihm über zwei Jahre hinweg zu den Böden und zur Critical Zone geforscht haben. Er wusste um den nahenden Tod und wollte sein Anliegen an die Gruppe weitergeben. Sein Terrestrisches Manifest ist ein Aufruf an uns moderne Menschen wieder »erdverbunden« zu werden. Ein Appell an die Vernunft, unsere zerstörerische Gier zu mindern.
Das Terrestrische habe ich auch über Sisyphos kennengelernt – ein ständiger Begleiter auf dem Steilhang. Dieser Boden wurde von vielen vor mir bearbeitet und es werden andere nach mir folgen. In den letzten Jahrhunderten sind zahllose Schweißtropfen und sicher auch Tränen auf ihn gefallen.
Ich bin hier auf absehbare Zeit. Bis dahin darf ich das Vorgefundene gestalten und es mit Freunden teilen. Dazu gehören die menschlichen und mehr-als-menschlichen Nachbarn. Ginsterbüsche, Wespenspinnen, der Geißenpeter. Die zahlreichen unfertigen, kleinen Inseln des Scheiterns und Gelingens. Jeder Stein, jede Pflanze, jedes Insekt ist Teil davon. Ein Geschenk.
21. März 2024
Der letzte und größte Bausatz meiner Fertigsaunen wird per Schwertransporter aus Estland geliefert und mit einem 50t schweren Kran nach oben gehieft.
Die neue Eigentümerin unterhalb meiner Parzelle entpuppt sich nicht als Nachbar, sondern als Kapitalanleger. Das alte Haus vermietet sie für 300 Euro pro Nacht via Airbnb. Auf diese Weise fallen Gruppen mit Teslas und Porsches ein – vorzugsweise aus Belgien, den Niederlanden und der Schweiz.
24. Juni 2024
Mehrere Schwitzhütten sind mit Waschmaschine, Wärmepumpe und Außenklo zu Wohnzwecken umgebaut. So ist auf dem kleinen Vogesenhang in drei Jahren eine kleine Dorfkulisse entstanden. Wie die Küche von Ikea ist dabei nichts aus dem Boden gewachsen, sondern dorthin transportiert und montiert worden.
Als ich letzte Woche Kies kaufen wollte, war der in allen Freiburger Baumärkten ausverkauft. Also das Material, auf dem sämtliche Gebäude im Oberrheingraben und damit auch der Baumarkt selbst steht. Porphyrplatten aus China und Olivenbäume aus Tunesien waren hingegen in Mengen vorhanden und sehr günstig zu haben.
17. August 2024
Meinem Vater schwinden die Sinne, das MRT zeigt deutliche Spuren von Demenz. Auf der gestrigen Familienfeier ist er in ein Delir gefallen. Ich musste ihn mit meiner Schwägerin duschen und die Windeln wechseln.
In letzter Zeit spricht er wiederholt von dem Sanatorium in Ebersteinburg und vermischt drei Zeitebenen: Vor sechs Jahren sollte meine Mutter hier im Hospiz sterben. Vor 20 Jahren begleitete er an dem Ort einen an Alzheimer erkrankten Freund in den Tod. Als junger Erwachsener verbrachte er selbst mehrere Wochen in dieser Klinik, nachdem er in eine schwere Depression gefallen war.
Mein Vater ist Jahrgang 1937. Als kleiner Junge musste er zuhause früh den Mann ersetzen, der in Russland Behelfsbrücken und Lager errichtete, um diese wenige Jahre später wieder in die Luft zu sprengen. Als mein Großvater aus dem Krieg heimkehrte, flog der Achtjährige aus dem mütterlichen Bett. Die Erfahrungen des Alten bekam er in Form von Prügel und Abwertungen zu spüren. Nicht so dessen zweiter Sohn, ein Wunschkind des Wirtschaftswunders. Die beiden Brüder bleiben sich wesensfremd, zwischen ihnen gibt es Konkurrenz und Verachtung. Sie haben seit Jahrzehnten keinen Kontakt und keiner sagt warum.
An Geishausen lässt sich eine ungelöste Vaterschaft zweier europäischer Nationen beobachten.
Der Ort war bis zum Westfälischen Frieden Teil des deutschen Kaiserreichs. Er geriet dann zunehmend unter französischen Einfluss und wurde nach der Revolution 1789 in die französische Nation aufgenommen. Im Anschluss an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 kam Geishouse wieder unter deutsche Verwaltung. Mit Ende des Ersten Weltkrieges wurde es wieder französisch mit Ausnahme der vierjährigen deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg.
Die Depression meines Vaters war bis vor kurzem verschwiegen worden. Auf Nachfrage beginnt meine Tante zu erzählen. Sylvester 1966 verbrachten meine Eltern im Kurhaus in Baden-Baden. Meine Mutter muss in dieser Zeit im zweiten Monat mit mir schwanger gewesen sein. Der erste Tanz gehörte ihr und dem Bruder meines Vaters. Mit dem 19-Jährigen unterhielt sie damals eine leidenschaftliche Affäre, von der wohl die ganze Familie wusste. Es muss der Winter nach meiner Geburt gewesen sein, als mein Vater dann in die Klinik ging. Nicht wegen Überarbeitung, wie es immer hiess, sondern weil er den Schmerz und die Demütigung nicht mehr aushalten konnte.
Seine Zweifel über unser Verwandschaftsverhältnis hat mir mein Vater nie anvertraut. Von seinem Handy möchte er jetzt meinen Namen löschen und sagt: „Daniel weg!“. Gleichzeitig ist er durchaus herzlich mit mir.
Als ich seinen Bruder und vielleicht leiblichen Vater anrufe, fragt dieser „Wer ist da bitte?“ und legt auf. Beim zweiten Anruf geht er gar nicht mehr ran und sperrt meine Nummer. Über meine Tante lässt er mir ausrichten, dass er keinen Kontakt zu mir wünscht.
19. August 2024
Wir können die Erde nicht länger aus der Ferne betrachten, sie uns nach Belieben vom Hals halten. Wir sind vielmehr immer verwoben, teilnehmend und vor allem abhängig. Vielen Menschen ist der Boden bereits unter den Füßen weggebrochen. Das Terrestrische ist ein Appell an die Vernunft, ein Aufruf die fehlgeleitete Gier der Moderne zu unterlaufen. Ein Aufruf an die Toleranz und die Endlichkeit. Ein Plädoyer für das Zusammenwirken, für das Leben aller. Eine Einladung, endlich gnädig und persönlich zu werden.