terrestrische notizen

Geishouse, Vogesen | Meereshöhe: 750m
Durchschnittlicher Niederschlag: 1256 mm/Jahr

Ausgangspunkt dieser Notizen ist eine topografische Verwerfung vor 50 Millionen Jahren. Durch einen Bruch tief in der Erdkruste entstand der heutige Oberrheingraben. Die tektonische Verschiebung schuf eine 40km breite Ebene, an deren Rändern sich zwei Mittelgebirge in die Höhe schoben.

27. Juli 2020

Vor zwei Jahren starb meine Mutter. Kurz vor ihrem Tod kaufte sie sich noch italienische Ledersandalen. Die Schuhe standen neben ihrem Bett im Hospiz. Sie hat sie nie mehr getragen.

Ihr Tod setzt bei mir eine Entwicklung in Gang. Teil der Transgression ist der Wunsch nach Neuland. »Wo landen?« fragt Bruno Latour in seinem terrestrischen Manifest. Ich suche nach einem Ort, an dem zufällig der Blitz einschlägt. Geerdet und konkret. Nach einem Stück Land, einem Refugium. Nach Möglichkeit mit Behausung, im Französischen le re-fuge. Fuge ganz im Sinne von Falte, am eindrücklichsten bei J.S. Bach.

Seit der jugendlichen Lektüre von Lenz lebt in mir die Sehnsucht nach den Vogesen als rauhes Gegenüber zum Schwarzwald: »Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen«.

Nach 30 Jahren Trennung von C.

Mit jeder Schneeschmelze schwemmt der Rhein Sedimentgestein aus den Alpen in die Tiefebene. Über Jahrmillionen mäandert der Fluß durch das breite Tal. Die Wassermassen schlängeln sich jährlich neu zwischen den beiden Gebirgen und bilden so den bedeutendsten Grundwasserleiter Mitteleuropas.

Der Ingenieur Tulla zwängt den Rhein ab 1817 in einen Kanal. Aus der relationalen Verschlungenheit wird effiziente Linearität. Dafür gab es gute Gründe – wie für alle hypertrophen Eingriffe der Moderne ins Naturgeschehen.

5. Dezember 2021

Thoreau, Kaczinsky, Corbusier und Jarman hat es aus unterschiedlichen Motivationen in kleine Hütten gezogen. »Live simple and build your hut«, empfiehlt Emerson. Und Baldwin notiert im Dezember 1956: »The place in which I´ll fit will not exist until I make it«. Die Dühnenhütte von Barbara Hammer zeigt, dass dies nicht nur Männerphantasien sind. Mit einer Ausnahme: Martin Heideggers Behausung in Todtnauberg.

Nach einigen Irrfahrten finde ich ein Hanggrundstück am Fuß des Grand Ballon. Eine Steilwiese am Waldrand mit Blick über das Rheintal auf die Alpenkette. In der kleinen Straße am unteren Rand liegt Wasser und Strom.

»Wenn es um abstrakte Geologie geht, lässt sich eine Trübung des Denkens nicht vermeiden. Die Erde und das menschliche Bewusstsein werden unablässig erodiert.«

Robert Smithson

Die Vogesen sind geografisch von scharfen Klimawechseln geprägt. Die Gebirgskette ist das erste große Hindernis für feuchte Luftmassen vom Atlantik. Hohe Niederschläge führten in der Eiszeit zu starker Gletscherbildung. 

Als diese schmolzen brachte die Sedimentation des Granitgesteins die charakteristische Morphologie der Landschaft hervor. Die Rundkuppen der Berge sind so durch fortlaufende Erosionen entstanden. Das halbkreisförmige Plateau am Fuß des Grand Ballon wurde von einem Kargletscher ausgeschürft. Dort liegt heute das Dorf Geishouse mit 500 Einwohnern.

12. Februar 2021

Ein milder Wintertag. Wie in Frankreich üblich findet der Kauf nicht im Notariat statt, der Notar kommt vielmehr aufs Gelände. Nach einigen Unterschriften bin ich Besitzer von Parzelle 160/7.

Gleichzeitig löst der Schritt ein Gefühl von Enge aus. Herbst 1973, irgendwo im Elsass: Super-8 Aufnahmen eines Sonntagsausflugs zeigen meinen Bruder und mich herausgeputzt, mein Vater filmt sein neues Auto. Im Hintergrund stolpert unsere Mutter haltlos durchs Bild.

Das Verb »haben« hat den gleichen lateinischen Ursprung wie das Wort »wohnen«. »Bowen« und »being«, Bauen und Sein hängen etymologisch ebenfalls zusammen. Gefangen auf einer von Gletschern geformten Landschaft.

»Der Betrüger, der als erster ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen Dies gehört mir und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der Begründer der bürgerlichen Gesellschaft.«

Jean Jaques Rousseau

Geishausen ist keine bloße Koordinate auf einer Kugel, wo sich Linien kreuzen, kein isotroper Raum. Vielmehr ein der Sonne und Witterung ausgesetztes Stück Land voller Einschreibungen und Geschichten, ein amorphes Areal voller Leben und Metabolismen. Mit mannigfaltigen Sichtbeziehungen, Rhythmen, Gerüchen und Spuren.

26. Februar 2021

Um das Stück Land besser verkaufen zu können, hatte der Vorbesitzer alles abgeholzt. Zum zwanzigsten Geburtstag von O. pflanzen wir einen Baum.

Für die Errichtung einer biologischen Kläranlage wird ein Bodengutachten erstellt. Eine Geologin nimmt Proben und mißt die Drainage des Granitgesteins in einem Meter Tiefe. Unter der Grasnarbe stößt sie auf Gesteinsbrocken in allen Größen, teilweise zu Sand erodiert.

Die Humusschicht ist vergleichsweise dünn. Die Bauern konnten meinen Hang aufgrund der Steilheit über Jahrhunderte nicht so gut bewirtschaften, wie die angrenzenden Parzellen.

Geishouse liegt auf der Leeseite der Vogesen. Es gibt deutlich weniger Niederschlag als auf der Seenplatte jenseits der Berge. Der Klimawandel verstärkt die Trockenheit.

15. März 2021

Das Grundstück wurde 1970 umlaufend mit Fichten eingefasst. J. und ich lichten die Reihen, so dass sich der Raum wieder nach unten öffnet. Das Terrain bekommt keine Umzäunung, Rehe und andere Tiere aus dem Wald können weiterhin kreuzen. Die jungen Obstbäume müssen mit dem Wildfraß leben.

Ich binde das gelbe Tischtuch aus der Stellabar in Kairo an einen Fichtenstamm. Die Fahne beginnt gleich im leichten Fallwind zu flattern.

Der Begriff der »Urbarmachung« wurde im 17. Jahrhundert übernommen aus niederdeutsch orbar, »ertragreiches Stück Land«, weiter zu mittelniederländisch orbare; gebildet zum mittelhochdeutschen Verb erbern, althochdeutsch urberen, »hervorbringen«, bestehend aus den Partikel er-ur und beran, »tragen«, vergleiche »gebären«.

4. April 2021

Ich folge der ethnologischen Empfehlung von Lindquist und grabe dort, wo ich stehe. Bei Pflanzarbeiten stoße ich auf eine Abfolge überwucherter Steine, die von den Bauern als Stufen in den Hang gelegt wurden. Die freigelegte Bewußtseinsschicht benenne ich nach meinem Analytiker A., ohne den ich den Weg hierher nicht gefunden hätte.

Im darauffolgenden Traum ist der gesamte Berghang mit einer gelben Neoprenhaut überzogen.

Um 600 v. Chr. siedeln hier die Kelten. Sie benennen die Gegend nach ihrem Berg- und Waldgott Vosegus.

21. April 2021

Ich reiche die Scheidung ein und pflanze eine marokkanische Schwarzkiefer. Sie stammt aus dem Atlasgebirge, mag kalte Nächte und braucht viel Sonne. Dem einheimischen Nadelgehölz sind die sandigen Böden längst zu trocken geworden. Mit etwas Glück kann der Baum aus der alten französischen Kolonie hier für einige hundert Jahre Wurzeln schlagen. Ich wäre mit drei Dekaden zufrieden.

Die Fallwinde vom Grand Ballon sind tendenziell föhnig, weshalb man von Geishouse aus die Schneeberge sieht. Von Eiger, Mönch und Jungfrau bis hin zum Mont Blanc.

10. Mai 2021

Ich schaffe Werkzeuge, Pflanzen und Baumaterialen auf das Gelände. Die meisten Dinge wurden übers Internet bestellt und per DHL oder per Spedition geliefert. Bis hin zu den beiden Fertigsaunen aus Schweden.

Laut McLuhan wird durch jeden Transport das verändert, was transportiert wird. Das gilt nicht nur für elektronische Medien, sondern auch für lebhafte Materie. Im deutschen Wörterbuch steht ›Transponieren‹ zwischen ›Transplantat‹ und ›Transport‹: zwischen den Geweben oder Organen, die verpflanzt werden, und der Beförderung von Dingen und Lebewesen: von einem Raum des Wissens in einen anderen. Es geht dabei nicht nur um die Transponate selbst, sondern um die Bedingungen und Folgen des Transponierens.

Anders als der Schwarzwald besitzen die Vogesen zwischen der Burgundischen Pforte im Süden und dem  Col de Saverne im Norden einen durchgehenden Hauptkamm. Er trennt die nach Ost und West laufenden Täler klar voneinander ab.

9. Juli 2021

Mit Beginn der Erdarbeiten liegt der Berghang wie eine offene Wunde da. Aufgerissene Gräben, Gestein und umgepflügte Grasnarben. Große Mengen an Kies werden aus dem Rheintal nach oben gefahren, aufgeschüttet und verdichtet. Eine tote Blindschleiche liegt auf dem Asphalt, eine Maus huscht über die sonnenverbrannte Erde auf der Suche nach Schutz. Kein Rotwild kreuzt den Hang.

Das System Erde versteht den Menschen als Teil der Natur, schreibt Humboldt. In diesem System ist alles in Bewegung: die Kontinente, die Pflanzen, die Tiere, die Menschen. Keine Bewegung bleibt folgenlos.

12. Juli 2021

Nach der Dürre des letzten Sommers gibt es in diesem Jahr viel Regen. Wolkenbrüche spülen die Erde nach unten und verleihen dem Gelände etwas Apokalyptisches.

Pest und andere Seuchen, Missernten und Hungersnöte prägen die Zeit um 1500. Die Bauern leben vom Ackerbau und von der Viezucht. Sie errichten Häuser und schützen diese mit Mauern aus den umherliegenden Granitsteinen.

17. Juli 2021

Der Meteoriteneinschlag von Ensisheim erschüttert 1492 das damalige Weltbild. In knapp 15km Entfernung errichte ich einen Krater mit ähnlichem Durchmesser. Eine Art von formbildender Verursachung, ein morphisches Feld für Libellen und Seerosen. Der Meteor hätte auch hier herunterkrachen können.

Die Lehmgrube füllt sich in kurzer Zeit mit Starkregen und wird zum Teich.

Von 1572 bis 1620 wütet die Hexenverfolgung. Im nahegelegenen Thann werden 140 Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. 1650 leben in Geishuss nach dem Dreißigjährigen Krieg nur noch 8 Bauern, 23 Kinder, 18 Horntiere und 3 Pferde. 

»Der Bunker treibt auf einem Erdboden, der eine bewegliche und aleatorische Ebene ist.«

Paul Virilio

30. Juli 2021

Terres Inconnue ist ein steiler Hang mit einer Neigung von 20°. Um ihn bewohnbar zu machen, errichten wir dort mit einem Bagger mehrere kleine Plateaus mit Fundamenten. Eine Stelle haben wir erst kurz vor Beginn der Erdarbeiten beim Picknick auf der Suche nach einem Schattenplatz gefunden. Auf 750m Höhe mit Blick auf den Grand Ballon.

Am Morgen wird die Schalung und die Bewehrung montiert. Neun Kubikmeter Beton der Konsistenzklasse 4 stehen unten im Tal im Stau, so dass der Zement bereits anzieht. Wasser vom Nachbarn bringt die graue Masse wieder in Bewegung, die dann zähflüssig durch die gewagte Röhrenkonstruktion fließt. Fünf Arbeiter sind 10 Stunden ohne Mittagspause im Einsatz und gießen an dem Tag die Fundamente für die Holzhütten.

Allen Bodenverdichtungen zum Trotz, werden die drei Betonplatten in den kommenden Jahrmillionen auf der Gletschermoräne ins Tal rutschen und zu Zementstaub zerfallen. 

Um 1.000 n. Chr beginnt die moderne Besiedlung. 1135 ist in einer Urkunde von Goldbach der Geishusenweg vermerkt. Er gehört zur Abtei von Murbach und ist Teil der Pfarrei Saint-Amarin. Die Toponymie ist wie folgt überliefert: Geishusen (1135), Geisshusen (1394), Geishuss (1576), Geishausen (1793), Geishouse (1789).

28. August 2021

Introjekte sind Dämonen, gefallene Engel. Ich fühle mich überfordert. Das Projekt folgt nicht nur dem Wunsch nach einer eigenen Behausung, eine Landschaft zu formen. Es wird immer mehr eine Konfrontation mit mir selbst, mit Anteilen, die ich als ein Fremdes und zugleich Vertrautes in mir trage.

Ich verbaue das Erbe meiner Mutter, unter deren Obhut ich mich lange Zeit geborgen, aber auch erdrückt gefühlt habe. Sie hatte sich nach meinem Bruder ein Mädchen gewünscht. So wurde ich das Objekt ihrer unerfüllten Wunschphantasien, die mich bis zu ihrem Tod besetzt hielten.

Der Gipfel des Grand Ballon ist der kälteste Ort in den Vogesen mit den höchsten Windstärken. Er ist gerade einmal zehn Meter höher als sein Pendant auf der deutschen Seite des Rheingrabens. Die Berge liegen wie zwei kommunizierende Röhren auf gleicher geografischer Höhe.

5. September 2021

Am nächtlichen Himmel sieht man die Satellitenkette von Elon Musk, eingebettet in die Milchstraße. 

Um dem digitalen Treibhaus zu entrinnen, wollen einige Superreiche das Raumschiff Erde verlassen und ihre DNA auf andere Planeten verpflanzen. Auf Kosten von acht Milliarden Menschen, die auf der Erde zurückbleiben. 

Tatsächlich ist auch mein Eingriff nicht nur privilegiert, sondern eine heimliche Geschwindigkeitsbox. Ich versuche gegenzuhalten so gut ich kann.

An den Tagundnachtgleichen im März und September geht die Sonne vom Elsäßer Belchen aus direkt über dem Schwarzwälder Belchen auf. Die Namensgebung der Berge geht zurück auf den keltischen Licht- und Frühlingsgott Belenus. Den Druiden diente die Anordnung der Gipfel und die der Gestirne als Kalender. 

21. September 2021

Wir erkunden das Belchen-System im Morgengrauen mit einem Reenactment von »Music for a Long Thin Wire« von Alvin Lucier. Es ist eiskalt auf dem Gipfel des Grand Ballon, mein kleiner Hund flüchtet sich in einen Rucksack. Um 7:12 Uhr brennt auf der Verstärker durch. Dann geht die Sonne auf. 

Die Bergkuppe hatte bereits für die Steinzeitmenschen eine kosmische Dimension. Zweitausendjahre nach der keltischen Hochkultur steht hier eine Radarstation, die den Herrschaftsanspruch der Techno-Moderne symbolisiert. Die kybernetische Skulptur des Architekten Claude Vasconi – Radarstation des Flughafen Mulhouse – erinnert an die Filmkulisse des Science Fiction PHASE IV.

07. Oktober 2021

Die Linie meiner Väter besteht aus traumatisierten Männern, die ihre inneren Spannungen seit Generationen kriegerisch ausagieren und ihre Kinder prügelten: Der Großvater baut und sprengt Brücken an der russischen Front, errichtet Mauern im Warschauer Getto, Vater und Bruder versiegeln das Murgtal, der Onkel den Kraichgau.

In meiner Sozialisation steckt im Bauen also immer auch ein Stück Krieg. Bagger und Panzer sind beides Kettenfahrzeuge. Einmal angerollt muss die Sache laufen, man zieht sie durch.

Die ausgehobenen Erdschächte für Wasser und Stromleitungen gleichen Schützengräben. Der Blick von dem Gelände fällt direkt auf den Hartmannswiller Kopf. Hier starben im Ersten Weltkrieg 25.000 Menschen in einem Stellungskrieg um einen symbolischen Hügel. Das reine Grauen. Teile dieses irrsinnigen Erbes stecken auch in meinem Körper.

Durch die Industrialisierung finden die Menschen ab 1680 Arbeit an den Webmaschinen, den Bergwerken sowie der ältesten chemische Fabrik Europas unten im Tal. Nach dem mühsamen Aufstieg am Abend füttern sie ihre Tiere und bewirtschaften ihre Bauerngärten.

15. November 2021

Michel Serres differenziert verschiedene topologische Ordnungen. So arbeiten und wirtschaften wir im euklidischen Raum, in dem wir etwa Land vermessen (die Parzelle 160/7 mißt 41x37m) oder massive Trittstufen verlegen (30 Steine à 60kg, also 2 Tonnen)

Gleichzeitig berühren, leiden, lieben und hantieren wir in davon grundlegend unterschiedenen Ordnungen. Mein Bewusstsein verbindet diese Psychogeografien so gut es eben kann. Aber die globalen Parasiten durchkreuzen die lokalen. Mit unseren digitalen Geräten geistern wir in einer distanzlosen Topologie umher und die rousseauschen Terrains verschwinden in der Maßstabslosigkeit. Auch meiner Parzelle wohnt dieses Gespenstische inne.

»Nach dem Urin, das Blut. Und nach dem Blut, die Asche. Nach der Natur, nach dem Heidentum des Pagus, der Polytheismus.«

Michel Serres

Mit der Französischen Revolution beginnt auch in Geishouse die Bürokratisierung. Bei der Volkszählung am 15. September 1790 werden 103 Haushalte mit 552 Personen gezählt. Davon 93 Tagelöhner. Als Geishouse 1800 unabhängige Gemeinde wird, sind die umliegenden Wälder zum Betreiben der Maschinen gänzlich gerodet.

24. November 2021

Das Architekturstudium liegt über dreißig Jahre zurück und von französischem Baurecht habe ich keine Ahnung. Entscheidungs- und Zeitdruck mit den Baufirmen, steigende Kosten, mangelnde Erfahrung – aber auch Leidenschaft am Gestalten, Spieltrieb, die Freude am Bauen und Pflanzen – führen schließlich zu einem Ergebnis, das radikal vom Bebauungsplan abweicht. Aus einem genehmigten Haus wird ein Teich mit vier Hütten. Auf ihren Dächern liegt der erste Schnee.

Nach dem Fall Napoleons fallen 1815 russische, bayerische und württembergische Truppen in das Tal ein. 1871 kommt Geishausen für ein halbes Jahrhundert unter deutsche Verwaltung. 

16. Januar 2022

Ein Einschreiben verhängt den sofortigen Baustopp mit Vorladung in die Mairie.

Am 29. Oktober 1860 werden die drei Glocken der Kirche geweiht. Am 4. Februar 1944 läuten diese das Ende deutschen Besatzung ein. 1965 werden die alten Bauerngärten an der Südostflanke des Dorfes in Bauland umgewandelt.

2. Februar 2021

In der einstündigen Inquisition mit dem Bürgermeister, seinem Stellvertreter, dem Bauamtsleiter sowie Emanuel Macron (per Foto an der Wand) werde ich aufgefordert, die kleine Hütte am Waldrand unverzüglich zu entfernen. Ein Ressentiment gegen den Deutschen, der auf französischem Boden willkürlich betoniert, wird spürbar – vielleicht begründet in den Hinterlassenschaften der Wehrmacht an der Atlantikküste. Damaliger Sprachgebrauch für die Bunkeranlagen: schwerer Massenbau. Ich bin kleinlaut und beschämt.

Bei der anschliessenden Ortsbegehung Stimmungswechsel. Dem Amtsleiter scheint die Sache zu gefallen. Es gab wohl Beschwerden, denen sie nachgehen mussten. Schließlich kann die Hütte bleiben. Einzige Auflage: ich soll einen Baum als Sichtschutz davor setzen, damit man das Gebäude von unten nicht mehr sieht. Eine Geste, die mich menschlich beeindruckt, zumal der Baum schon da steht. Die Intervention ist jetzt von der Gemeinde abgesegnet.

Bis ins 18. Jahrhundert bedeutet Landschaft die schicksalhafte Verschränkung von Landstrich, Gemeinschaft und Natur. In der Moderne dient diese nur noch der Ausbeutung – und sei es im Modus der touristischen Erholung. Sie hat den Lebensraum der Erde in eine kritische Zone verwandelt.

31. Dezember 2021

Meine erste Nacht in der kleinen Holzhütte am Waldrand. Punkt 0 Uhr ertönt von oben lautes Gegröle. Mein Paradies wird plötzlich zur Kulisse einer Sylvesterfeier, ich fühle mich unter Beobachtung und bin gefangen.

Das weit auskragende Gebäude oberhalb meines Geländes hatte ich so gut es ging ausgeblendet, vielleicht verdrängt. Es taucht auch auf den meisten meiner Fotos nicht auf. Aber während ich nach vorne in die weite Landschaft blicke, schiebt sich hinter mir ein dunkles Haus mit ausladender Terrasse über die Bergkuppe.

Die Anordnung ist seit »Psycho« Teil des kollektiven Filmgedächtnises. Sie gleicht einem Panoptikum, das mich in den Käfig der (Selbst-)beobachtung zwängt. Das Problem liegt mehr in meinem Inneren, als im Außen.

»Der erste, der einen Garten umzäunte und sich anschickte zu sagen: Dies genügt mir, ohne nach mehr Platz zu gieren, schloss Frieden mit seinen Nachbarn und behielt das Recht zu schlafen, sich zu wärmen und zu lieben.«

Michel Serres

24. Oktober 2023

Die Bäume haben Wurzeln geschlagen.

Von Bruno Latour habe ich den Begriff des Terrestrischen gelernt. Er war schon krank, als wir mit ihm über zwei Jahre hinweg zu den Böden und zur Critical Zone geforscht haben. Er wusste um den nahenden Tod und wollte sein Anliegen an uns weitergeben. Sein Terrestrisches Manifest ist ein Aufruf an uns moderne Menschen wieder »erdverbunden« zu werden. Ein Appell an die Vernunft, unsere zerstörerische Gier zu mindern.

Das Terrestrische habe ich auch über Sisyphos besser verstanden. Auf meinem Steilhang ist er ein ständiger Begleiter. Dieser Boden wurde von vielen vor mir bearbeitet und es werden andere nach mir folgen. In den letzten Jahrhunderten sind zahllose Schweißtropfen und auch Tränen auf ihn gefallen.

Ich bin hier auf absehbare Zeit. Bis dahin darf ich das Vorgefundene gestalten und es mit Freunden und Familie teilen. Dazu gehören die menschlichen und mehr-als-menschlichen Nachbarn. Ginsterbüsche, Wespenspinnen, der Geißenpeter. Die zahlreichen unfertigen, kleinen Inseln des Scheiterns und Gelingens. Jeder Stein, jede Pflanze, jedes Insekt ist Teil davon. Ein Geschenk.

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